DPU - Wissenschaft & Kunst im Dialog

Im Humanismus werden Wettbewerb und Konkurrenz als Hilfsmittel gegen „die dunklen Seiten der menschlichen Natur“, wie Trägheit und Egoismus, verstanden, die als Triebfedern für den geistigen und gesellschaftlichen Fortschritt dienen. In der Evolutionsbiologie wird das Konkurrenzverhalten als ein wichtiger Motivator in der kognitiven Entwicklungsgeschichte des Menschen betrachtet. Das Konkurrieren um Nahrung, Ressourcen und Paarungspartner in der Gruppe ist ein Verhalten, das die Entwicklung von Strategien zur Problembewältigung und vor allem Fertigkeiten in der sozialen Interaktion maßgeblich förderte. Nichtmenschliche Primaten wie die Schimpansen erkennen ihren eigenen Status sowie den ihrer biologischen Verwandtschaft und können auch die soziale Rolle Dritter sowie deren Verwandtschaftssysteme erfassen. Sie erkennen Bindungen zwischen anderen, sind in der Lage, diese Beziehungen zu vergleichen und sind zur Manipulation fähig. Sie können – bis zu einem gewissen Grad – den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung verstehen und (logische) Schlussfolgerungen ziehen. Diese Fähigkeiten werden als Schlüsselkompetenzen des Denkens („Theory of mind“) verstanden, die bei unseren nächsten noch lebenden Verwandten im Tierreich primär dem individuellen Vorteil dienen und nicht der Gemeinschaft (Call & Tomasello 2008). Während der Hominisation ändern sich Motivation und Intensität dieser Kompetenzen maßgeblich. Der moderne Mensch erkennt nicht nur ein „Ich“ und ein „Du“, sondern entwickelt ein „Wir“-Gefühl, das gemeinsame Ziele und eine moralische Identität schafft. Eine zentrale Rolle spielen dabei Sprache und Sozialisierung. Kommunikationsfähigkeit ermöglicht die Planung und Entwicklung von Strategien sowie Tradierungsprozesse und somit die Weitergabe von Wissen über Generationen. Die Sozialisierung geht mit dem Leben in der Gruppe einher und wird durch Austausch und Auseinandersetzungen sowie Kooperationen und Allianzen verstärkt. Nach dem Psychologen und Neurowissenschaftler Michael Tomasello (2020) konnte sich erst mit diesen Schlüsselkomponenten die menschliche Kultur überhaupt entwickeln. Weitere Studien zeigen, dass – unabhängig von der Sozialisierung durch Erwachsene – ein prosoziales Verhalten bei Kleinkindern bereits angelegt ist. Dies spricht für eine natürliche Selektion von prosozialem Verhalten und somit für eine evolutionäre Basis, auf der ontogenetische Prozesse aufbauen. Hier Konkurrenz und moralische Identität – vom „Ich“ zum „Wir“ Ass.-Prof.in Dr.in Nicole Nicklisch, Zentrum Natur- und Kulturgeschichte des Menschen, DPU was wir ihnen aufgetragen haben. Das ist leider nur die halbe Wahrheit. Algorithmen und Programme definieren zwar den Startpunkt des „Maschinen-Lernens“, aber das Ergebnis, die handelnde KI, wird durch Lernen, Trainingsprogramm und Trainingsmaterial geprägt. Mit einem einzelnen Programm können je nach Trainingsmaterial sehr unterschiedliche aktive „KIs“ erzeugt werden. Dies wird deutlich, wenn eine einseitige Auswahl des Trainingsmaterials zu einem „Vorurteil“ der KI, zum Beispiel für oder gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen führt, dass sich erst in der Benutzung zeigt. Und genauso, wie wir aus dem Verschaltungsmuster von Neuronen der menschlichen Hirnrinde die kognitiven Fähigkeiten und gespeicherten Erinnerungen eines Menschen nicht mehr entschlüsseln können, ist es kaum möglich, aus den digitalen Verschaltungen neuronaler Netzwerke zu ermitteln, was dieses System „gelernt“ hat und in der Zukunft tun wird. KI-Systeme sind also zwar deterministisch, aber keineswegs linear, einfach oder in allen Aspekten vorhersehbar. Der zweite Grund für Skepsis ist die Möglichkeit der eigenständigen Evolution digitaler Systeme der KI. Wenn wir die KI in die Lage versetzen, sich selbst zu reproduzieren und dabei zufallsgesteuert zu verändern, ist es nicht möglich, Grenzen für die Entwicklung vorherzusehen. Mit relativ einfachen Regeln, Zeit, Energieversorgung und viel „Versuch und Irrtum“ sind in der biologischen Evolution aus einfachsten „Zutaten“ komplexe vielzellige Organismen entstanden. Und es ist durchaus möglich, dass Eigenschaften wie Gefühle, Selbsterkenntnis, Unterscheidung von Phantasie und Realität, Schöpfertum, Empathie und Moral Antworten auf evolutionäre Fragestellungen und evolutionäre Konkurrenz sind. Wir können nicht sicher sein, dass technische Systeme der KI solche Antworten nicht auch finden können, wenn wir sie mit den geeigneten Startbedingungen auf die Reise schicken. Die KI wird also zwar programmiert – aber ihre Verhaltensweisen sind trotzdem nicht im üblichen Verständnis „vorprogrammiert“, und wie in der Natur können durch Lernen, Variieren und Selektieren sehr überraschende Ergebnisse entstehen. Die Programme legen in diesem Kontext nicht die Eigenschaften der KI fest, sondern sie bestimmen nur die Regeln, mit denen das System startet und lernt. Wir könnten einwenden, dass man doch die Ergebnisse aus den Handlungsregeln mit ausreichender Genauigkeit vorhersagen kann und eine Maschine, in die man nicht Empathie hineinprogrammiert hat, auch keine Empathie zeigen wird. Aber es gibt schlagende Beispiele aus der unbelebten und belebten Natur, die uns zu Bescheidenheit mahnen. Schon bei sehr einfachen physikalischen Systemen, wie einem Doppelpendel, ist die Vorhersage der Bewegung über längere Zeit grundsätzlich oder praktisch unmöglich, da beliebig kleine Änderungen der Ausgangsbedingungen zu beliebig großen Auswirkungen auf das Ergebnis führen. Für komplexe Systeme, wie eine evolutionär sich selbst anpassende KI, gilt das durchgängig. Solch eine KI könnte also ein „Zauberlehrling 2.0“-Problem darstellen, in dem der Besen sich dynamisch und unvorhersehbar an die Umwelt anpasst und beginnt, Staudämme zu bauen, Flüsse umzuleiten, Menschen umzusiedeln und allgemeine Hinweise zur Wasserwirtschaft zu geben. Dann könnte der Schatten der menschengemachten KI schon sehr dunkel werden. Wir sollten Bescheidenheit mit Vorsicht paaren, niemanden und nichts unterschätzen und rechtzeitig Regeln festlegen, die den Zauberlehrling, aber auch den Besen auf sicheren Bahnen halten! Fortsetzung auf der nächsten Seite Fortsetzung „Humanismus im Schatten der KI“ von Rüdiger Safranski Wettbewerb, Gewaltenteilung – darin verkörpert sich ein realistisch gewordener Humanismus, der den Mensch durchaus nicht idealisiert. Ein Humanismus aber auch, der in der säkularisierten Welt seine einst scharfe Unterscheidung, nämlich die gegen Gott sich abgrenzende Bedeutung, verloren hat. Doch es spricht einiges dafür, dass der Begriff des Humanismus eine neue Trennschärfe bekommen kann. Denn die Maschinenwelt bis hin zur Künstlichen Intelligenz schickt sich an, den Ort zu besetzen, den einst Gott einnahm. Und so kann die alte stolze humanistische Forderung, sich nicht nach Gott, sondern nach sich selbst richten zu wollen, nun gegen die Maschinenwelt gerichtet werden, die heute eine Art Transzendenz darstellt, die Unterwerfung einfordert. Der Humanismus im Schatten der KI würde demgegenüber bedeuten, dass der Mensch sich nach sich selbst und nicht nach seinen Maschinen – und seien sie noch so intelligent – richtet. Bei den früheren Maschinen wurden vor allem die Körperkräfte ergänzt, ersetzt und überboten; bei den intelligenten Maschinen werden Kognitionsleistungen ergänzt, ersetzt und überboten, die man bisher ausschließlich zum menschlichen Geist gerechnet hat. Besonders der Hype um die neueste Sprachsoftware ChatGPT legt es nahe, die drei „großen Kränkungen“, von denen Sigmund Freud einst sprach, um eine „vierte Kränkung“ zu ergänzen. Zur Erinnerung: Die erste Kränkung war die kopernikanische, als der Mensch bemerkte, dass er und sein Planet nicht im Mittelpunkt der Welt stehen; die zweite war die darwinsche: Der Mensch stammt vom Affen ab und die Schöpfung geschieht nicht nach göttlichem Plan, sondern durch Zufallsmutation und Selektion; die dritte Kränkung ist die freudianische: Das Ich ist nicht Herr im eigenen Hause; nun also die vierte Kränkung: Ein erheblicher Teil dessen, was wir Intelligenz nennen, ist nicht nur maschinell darstellbar sondern auch überbietbar. Es wäre jedoch eine verhängnisvolle Selbsttäuschung, wenn der Mensch aus dieser partiellen Überlegenheit der von ihm gebauten Maschine folgern würde, er müsse sich selbst letztlich als eine Maschine verstehen. Nicht Anpassung, gar Unterwerfung unter das selbst geschaffene Produkt ist gefordert, sondern umgekehrt: Je intelligenter die Maschinen werden, desto größer wird die Herausforderung, im Kontrast zur maschinellen Intelligenz das zu begreifen, was wir menschlichen Geist und Bewusstsein nennen. Die Frage, die sich daraus ergibt, lautet dann: Wenn sich ein Teil der Intelligenz in den Maschinen auslagern und automatisieren lässt, was bleibt dann das Eigentümliche des menschlichen Geistes? Es geht also um das Humanum des Geistes im Unterschied zu den intelligenten Maschinen. Ich weise auf sechs Aspekte hin (es gibt gewiss noch mehr): Der menschliche Geist ist, erstens, eingebettet in Gefühle und Stimmungen, in hochkomplexe emotionale Zustände, in denen sinnliches Situationserleben, Erinnerungen, Erwartungen, Erfahrungen sowie Handlungsimpulse sich zu einem atmospharischen Ganzen vermischen. Diese emotionale Einbettung des Geistes gibt ihm eine ganz andere Beweglichkeit und innere Geräumigkeit als die durch Algorithmen und Logik automatisierten Verfahren der Künstlichen Intelligenz. Im Vergleich mit den klar definierten, perfekt funktionierenden Vorgängen, wie sie maschinell möglich und nötig sind, mag das wie ein Nachteil aussehen, es ist aber genau das, was den Geist als lebendigen Prozess ausmacht. Der menschliche Geist ist, zweitens, charakterisiert durch ein Selbstverhältnis. Er kann zu sich selbst „Ich“ sagen. Er erfährt sich selbst als „Person“ – das ist vielleicht überhaupt das größte Wunder der Evolution. Der Philosoph Schelling hat das einmal in dem wunderbaren Satz zum Ausdruck gebracht. „Die Natur schlägt im Menschen ihre Augen auf und bemerkt, dass sie da ist …“ Dass der menschliche Geist ein Verhältnis zu sich selbst hat, bedeutet, dass er sich seiner selbst bewusst ist. Er hat also ein Bewusstsein des Bewusstseins. So Fortsetzung in der Mitte auf der nächsten Seite

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